Amnesty Journal Nicaragua 05. Oktober 2009

Gesetz mit Todesfolge

In Nicaragua hat das neue Gesetz gegen Abtreibung ­drastische Folgen. Selbst der Tod von schwangeren Frauen wird in Kauf genommen.

Yasmina Bojorge könnte noch leben. Mit einem Kaiserschnitt hätten ihr die Ärzte im Krankenhaus Fernando Vélez País von Managua den wahrscheinlich toten Embryo aus dem Bauch holen können. Doch die Mediziner weigerten sich. Zu hoch schien ihnen das Risiko, für den Eingriff juristisch zur Rechenschaft ­gezogen zu werden. Die 18-jährige Nicaraguanerin starb an den Folgen ihrer Schwangerschaft.

Das war im November 2006, nur wenige Wochen, nachdem das nicaraguanische Parlament das bislang geltende Recht auf therapeutische Abtreibung abschaffte und die Durchführung unter Strafe stellte. Bis dahin war der Eingriff erlaubt, wenn die Schwangerschaft Folge einer Vergewaltigung war oder Gefahr für Leib und Leben der Mutter bestand.

Die Abgeordneten hatten es eilig: Um Wählerstimmen zu bekommen, hatte sich die Sandinistische Befreiungsfront FSLN vor der Präsidentschaftswahl der katholischen Kirche angenähert und deren Forderung nach einem absoluten Verbot von Abtreibungen unterstützt. Gemeinsam mit den Abgeordneten der Liberalen Partei setzten sie die Änderung durch.

Dabei hatten Ärzteverbände, Frauenorganisationen und internationale Gremien wie die Weltgesundheitsorganisation oder die Interamerikanische Menschenrechtskommission vor den Folgen für die betroffenen Frauen gewarnt. Kate Gilmore, die stellvertretende internationale Generalsekretärin von Amnesty International, spricht von einem "zynischen Produkt eines politischen Gemauschels", das bis heute Frauen und Mädchen bestrafe.

Wie viele Menschen inzwischen aufgrund der Entscheidung gestorben sind, ist unklar. Bereits in den ersten Monaten kostete die Reform zwei Frauen das Leben, erklärt Violeta Delgado von der nicaraguanischen Frauenorganisation Movimiento Autónomo de Mujeres (MAM), "weil sich die Ärzte aus Angst vor Strafe geweigert haben, sie zu behandeln". Selbst offizielle Angaben bestätigen, dass allein in der ersten Hälfte dieses Jahres 33 Mädchen und Frauen aufgrund ihrer Schwangerschaft gestorben sind.

Dennoch beschlossen die Parlamentarier, diese Rechtsnormen auch in der neu formulierten Strafgesetzordnung festzuschreiben. Diese Gesetze, die im Juli 2008 in Kraft getreten sind, stellen den Schwangerschaftsabbruch unter allen Umständen unter Strafe. Sowohl die betroffenen Frauen und Mädchen als auch Ärzte, die Abtreibungen vornehmen, müssen mit einer Gefängnisstrafe von ein bis drei Jahren rechnen. Den Medizinerinnen und Medizinern drohen zudem bis zu fünf Jahre Berufsverbot. Selbst wenn der Embryo nicht überlebensfähig ist oder die Schwangerschaft das Leben der Mutter gefährdet, ist die Abtreibung verboten.

Diese Gesetze verstoßen gegen zahlreiche Menschenrechtsvereinbarungen, die Nicaragua unterzeichnet hat, so etwa gegen die Antifolterkonvention und das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht von Amnesty International, der im Juli dieses Jahres veröffentlicht wurde.

Es ist die erste Studie, in der Amnesty die menschenrechtlichen Konsequenzen eines Abtreibungsverbots untersucht. Im Mittelpunkt stand die Frage, welche Folgen die Reform für Frauen hat, die durch Vergewaltigung oder Inzest schwanger wurden oder durch die Schwangerschaft gesundheitlich gefährdet sind. In diesen Fällen, so stellt der Bericht klar, muss die Abtreibung sofort entkriminalisiert werden: "Frauen und Mädchen dürfen nicht zum Ziel strafrechtlicher Sanktionen werden, weil sie, unter welchen Umständen auch immer, eine Abtreibung durchführen wollen oder durchführen haben lassen." Das Verbot sorge dafür, dass die Müttersterblichkeit im Land steige.

In Nicaragua werden vor allem Mädchen und junge Frauen vergewaltigt, und das oft von ihren Vätern, Brüdern oder Onkeln. "30 Prozent aller nicaraguanischen Mädchen sind in der einen oder anderen Weise Opfer von sexuellem Missbrauch", erklärt die MAM-Sprecherin Delgado. Die 17-jährige "M." berichtete Amnesty, wie ein Familienangehöriger sie sexuell misshandelt und mit einer Waffe bedroht habe. Während ihrer Schwangerschaft sei sie beinahe gestorben. Noch heute ist sie stark traumatisiert. "Viele Tage sind wie ein Alptraum", erzählt die junge Mutter und erinnert sich an die zahlreichen Momente, in denen sie sich umbringen wollte.

In solchen und vielen anderen Fällen werden Vergewaltigungen als Folter angesehen, und eine Abtreibung kann die körperlichen und psychischen Traumata lindern, die eine Fortsetzung der Schwangerschaft hervorruft. Die nicaraguanischen Gesetze, so folgert Amnesty, "kriminalisieren nun eine international anerkannte Möglichkeit zur Überwindung der Menschenrechtsverletzung Folter". Betroffen seien vor allem Mädchen und Frauen, die in Armut leben, eben "jene, die vom öffentlichen Gesundheitssystem abhängig sind und nicht die Ressourcen haben, um eine Behandlung außerhalb Nicaraguas zu suchen".

Ebenso eindeutig verurteilt Amnesty die strafrechtliche Verfolgung von Ärzten. Diese habe nicht nur wie bei Yasmina Bojorge zur Folge, dass Mediziner Patientinnen abweisen. Denn auch bei Fehlgeburten oder unerwünschten Abgängen können sie zur Verantwortung gezogen werden. Selbst wenn ein Abbruch wegen einer Aids-, Krebs- oder Malariatherapie notwendig ist, müssen die Mediziner mit Konsequenzen rechnen. "Wir können unsere Berufslizenz, unsere Freiheit und unseren Ruf verlieren, einfach weil wir getan haben, was notwendig war", zitiert Amnesty einen Arzt und verweist darauf, dass die Mediziner gezwungen sind, gegen die geburtshilflichen Regeln zu verstoßen, die das nicaraguanische Gesundheitsministerium selbst aufgestellt hat.

Unter Druck stehen auch Menschen, die sich gegen die Gesetze wehren. Präsident Daniel Ortega (FSLN) geht immer wieder gegen Frauenorganisationen vor. Im November 2008 startete Amnesty eine Urgent Action, weil das Leben der MAM-Aktivistin Patricia Orozco in Gefahr war. Die Feministin, die in der Kampagne "28. September für die Entkriminalisierung der Abtreibung in Lateinamerika und der Karibik" aktiv ist, erhielt Anrufe, in denen ihr sexuelle Gewalt angedroht wurde. Auch die regierungseigene Wochenzeitung "El 19" findet für Orozco und andere Frauenrechtlerinnen drastische Worte: Sie werden als "Männerhasserinnen" dargestellt, die "schwarze Magie" praktizieren.

Von Wolf-Dieter Vogel
Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.

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