Blog 13. Oktober 2015

Als Prozessbeobachter vor Ort in Ankara

Gerichtsgebäude in Ankara

Am 5. Oktober begann in Ankara der erste Tag im Prozess wegen der Ermordung des 16-jährigen Yasin Börü und dreier weiterer junger Männer. Amnesty-Mitglied Johannes von Ahlefeldt war vor Ort, um sich selbst einen Eindruck vom Verfahren zu machen.

Johannes von Ahlefeldt ist seit 1986 in unterschiedlichen Funktionen für Amnesty International aktiv. Seit 1993 engagiert er sich in der Türkei-Koordinationsgruppe der deutschen Amnesty-Sektion.

Am 7. Oktober 2014 wurden im Bezirk Baglar der Stadt Diyarbakir sechs Männer getötet, als dort einige der schwersten Zusammenstöße an diesem Tag stattfanden. Die Männer starben infolge von Verletzungen, die sie im Zuge von Kämpfen zwischen rivalisierenden Gruppen davontrugen in der Nähe der Büros von "Köy-Der". Dieser Verein steht in Verbindung mit der konservativen kurdischen Partei "Hüda Par". Alle Getöteten hatten ebenfalls Kontakt zu "Hüda Par". Ein Jugendlicher (Yasin Börü, 16 Jahre alt), und drei junge Erwachsene (Ahmet Dakak, 19, Riyad Güneş, 26, and Hasan Gökguz, 25) wurden getötet, nachdem sie eine Privatwohnung betreten hatten, um den Angreifern zu entkommen.
 Autopsieberichte deuten darauf hin, dass sie erstochen und erschossen wurden. Zeugen berichteten, dass Körper aus dem dritten Stock auf die Straße geworfen wurden. Zwei von ihnen seien verbrannt und einer von ihnen sei absichtlich von einem Auto überfahren worden.

Vertreter von "Hüda Par" berichteten Amnesty International, dass sie während der 30 Minuten, die sie sich in dem betreffenden Appartement befanden, mehrmals bei der Polizei angerufen und sie über die angespannte Lage informiert hätten. Die Polizei erschien erst am Tatort, als die Leichen bereits 45 Minuten auf der Straße gelegen hatten - eine unverhältnismäßig lange Zeit, um zu einem zentral gelegenen Ort in der Stadt zu gelangen.
 
Sowohl der Präsident als auch der Ministerpräsident hatten den Fall öffentlich kommentiert. Daher ist er einer von nur vier Fällen, in denen die Ermittlungen zu den landesweiten Kobane-Protesten im Herbst 2014 zu einem Prozess geführt haben, obwohl über 40 Menschen in deren Folge starben.

Fast ein Jahr nach dem Vorfall nahm ich Anfang Oktober als Beobachter für Amnesty International an der ersten Anhörung im Verfahren wegen der Ermordung des 16-Jährigen Yasin Börü und dreier weiterer junger Männer am 7. Oktober 2014 in Diyarbakir teil. 
Aus Sicherheitsgründen war das Verfahren auf Beschluss des Obersten Gerichtshofes von Diyarbakir nach Ankara, an das zweite Schwere Strafgericht, verlegt worden. Das war erst mein zweiter Einsatz als Beobachter, und nach Diskussionen über die Natur und Bedeutung des Prozesses am Abend zuvor war ich nervös. Deshalb schlief ich in der Nacht vor dem Prozess nur wenig und schlecht.

Der erste Tag des Prozesses in Ankara

Gegen 9 Uhr morgens kam ich am Gerichtsgebäude, dem imposanten Justizpalast von Ankara, an. Die Anhörung sollte gegen 10 Uhr beginnen. Vor dem Eingang zu den Strafgerichten hatte sich bereits eine Menge von etwa 300 Menschen versammelt. Sie trugen Transparente und Plakate, die zu einem großen Teil das Konterfei von Yasin Börü zeigten.
 Ich musste einige Zeit suchen, bis ich den Sitzungssaal fand. Die Anhörung war in einen wesentlich größeren Raum verlegt worden war, der die zwei regulären Gerichtssäle des zehnten und elften Strafgerichts zusammenfasste. Im ersten Saal warteten die Richter und der Staatsanwalt, die als Vertreter des Staates in der Türkei nebeneinander und gegenüber den übrigen Verfahrensbeteiligten erhöht sitzen, sowie etwa 50 bis 60 Rechtsanwältinnen und -anwälte, die 22 Angeklagten und als Nebenkläger die Angehörigen der Opfer.

Interessierte sowie Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Prozesses vor dem Justizpalast in Ankara am 5. Oktober 2015.

Die 22 anwesenden Angeklagten befanden sich zuvor in Untersuchungshaft. Insgesamt waren im Zuge dieses Prozesses 34 Personen angeklagt worden. Der zweite Saal war der allgemeinen Öffentlichkeit vorbehalten. Hier befanden sich 200 bis 300 Personen, davon viele in traditioneller Tracht gekleidet. Männer und Frauen saßen in getrennten Reihen, darunter viele junge Aktivisten von "Hüda Par" mit Yasin-Börü-T-Shirts, der dieser Organisation angehört hatte.


Zunächst hatte man mich gemeinsam mit meiner Übersetzerin in diesem zweiten für die Öffentlichkeit bestimmten Saal platziert, so dass wir den Richter und einige der Angeklagten zwar sehen, aber nicht hören und somit auch nicht dem Fortgang des Verfahrens folgen konnten. Als ich mich erhob, um besser zu sehen, wurde ein Polizist auf mich aufmerksam, der bei der Leibesvisitation vor dem Gerichtssaal mitbekommen hatte, dass ich ein ausländischer Beobachter war. Er bedeutete mir, dass ich mich an der schwer bewaffneten Polizei vorbei in den eigentlichen Anhörungsaal begeben sollte.

Zu Beginn ermahnte der Richter das Publikum im Nebensaal, dass er sich Zwischenrufe oder andere Unruhe verbäte und notfalls den Saal räumen lassen und den Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit fortsetzen werde. Dann begann das Verfahren mit der Feststellung der Personalien der Angeklagten und ihrer Rechtsvertretung. Einer der Angeklagten war per Videokonferenz aus Adana zugeschaltet. Vier Angeklagte gaben zu verstehen, dass sie kein Türkisch sprächen und einer Übersetzung ins Kurdische bedürften. Trotz der Umstände des Verfahrens stand jedoch kein Dolmetscher bereit. Der Richter forderte die Angeklagten etwas unwirsch auf, sie mögen ihre Vorbehalte zurückziehen, damit er mit der Anhörung fortfahren könne. Aber der Rechtsanwalt beharrte gemäß einer Änderung des Strafrechts von 2013 auf der Übersetzung "in eine andere Sprache, in der sich die Angeklagten besser ausdrücken können". Daraufhin stellte der Richter die Befragung dieser Angeklagten bis zum Ende der Verhandlung zurück. Zugleich verlangte er, dass man bei zukünftigen Terminen das Gericht vorab informieren möge, wenn eine Übersetzung nötig wäre. Dazu ist zu sagen, dass Angeklagte in der Türkei zwar einen Anspruch auf Übersetzung haben, jedoch die Kosten dafür selbst tragen müssen. Ein Gerichtsdiener machte sich auf die Suche nach einem Übersetzer ins Kurdische. Dieser erschien allerdings erst nach über zwei Stunden.

Nach der Verlesung der zentralen Punkte der Anklageschrift wurden zunächst alle Angeklagten von  20 Gendarmeriesoldaten, von denen sie während des gesamten Verfahrens umringt wurden, aus dem Saal entfernt. Dann begann der vorsitzende Richter damit, alle Angeklagten einzeln zu vernehmen. Die zwei Beisitzer wurden kaum aktiv, machten sich aber immer wieder Notizen während der Befragung.

Die Liste der Angeklagten hängt im Gerichtsgebäude in Ankara aus.

Der erste Angeklagte zog das Geständnis zurück, welches er in Polizeihaft gemacht hatte, weil er mit "Verschwindenlassen" bedroht worden sei. Er könne nicht lesen und schreiben. Ihm sei dennoch von den Polizisten in einem dunklen Raum ein vorgefertigtes Statement zur Unterzeichnung vorgelegt worden. Auf die Nachfrage des Richters, weshalb er die Aussage nicht schon vor dem Staatsanwalt widerrufen habe, als sein Rechtsanwalt dabei gewesen sei, entgegnete der Angeklagte, dass auch dort dieselben Polizisten anwesend gewesen seien, die ihn in der Haft verhört hatten. Im Übrigen sagte er aus, nicht an den Protesten teilgenommen zu haben und keinen der Mitangeklagten zu kennen.

Der zweite Angeklagte räumte ein, am Tatort gewesen zu sein. Er sei jedoch keiner der Kobane-Demonstranten gewesen. Er sei zu dem Gebäude gegangen, um seine Tante und seinen Onkel zu warnen, dass in ihrer Gegend Zusammenstöße zwischen Kräften des "Islamischen Staates" und der kurdischen YPG geplant seien. Als er dort ankam, seien die gewaltsamen Auseinandersetzungen jedoch bereits in Gange gewesen, und er wäre zum Bleiben gezwungen gewesen, obwohl er keiner der beiden Gruppen angehörte. Etwa 200 YPG-Anhänger mit Pistolen und Messern hätten das Appartement umzingelt. Als er mehrmals versuchte, das Gebäude zu verlassen, hätte er zunächst Bewaffnete rufen hören: "Wir töten alle in dieser Wohnung, weil sie versteckte IS-Kämpfer sind." Bei anderer Gelegenheit hätte er ein oder zwei Leichen auf dem Boden liegen gesehen.

Als er vom Richter mit einem Polizeibericht konfrontiert wurde, demzufolge er ausgesagt habe, zur Beschreibung einiger Angreifer in der Lage zu sein, entgegnete auch er, dass dieses Statement während der seiner zehnmonatigen Untersuchungshaft unter Zwang zustande gekommen sei. Es gäbe zwar ein Bild vom Tatort, das ihn zeige, aber der Mord habe sich zehn Minuten früher ereignet. Trotz dieses teilweisen Widerrufes diente er weiter als eine Art Kronzeuge und seine Aussagen wurden dem Verfahren gegen seine Mitangeklagten zugrunde gelegt. Denn er sagte aus, alle bis auf einen der Angeklagten zu kennen, wobei er sich bei einem im Namen irrte. Einige stritten ab, ihn zu kennen, manche kannten ihn bestenfalls flüchtig. Ein Angeklagter vermutete sogar, dass er aus Rachsucht in diesen Mordprozess hineingezogen worden sei, weil er in der Vergangenheit mit dem zweiten Angeklagten um ein Mädchen gestritten hatte.

So zog sich der Prozess mit der Vernehmung aller Zeugen, der Klärung einzelner Widersprüche in den Aussagen der Angeklagten und mit Gegenüberstellungen bis zum Abend hin. Zuletzt wurden die vier Angeklagten auf Kurdisch vernommen, denen die schwersten Verbrechen zur Last gelegt wurden. Nach der Vernehmung eines Zeugen per Videokonferenz aus Diyarbakir, unterbrach der Richter die Sitzung gegen 18 Uhr. Es handelte sich um den Vater des Hausbesitzers, den man der Anstachelung zur Hetzjagd beschuldigt hatte. Da die Übersetzerin bereits nach Istanbul zurückfliegen musste, verließ ich die Anhörung zu diesem Punkt. Später erfuhr ich, dass die Anhörung noch bis 23 Uhr gedauert hatte, obwohl eigentlich nur noch die Vernehmung des Angeklagten aus Adana offen geblieben war. Das Verfahren wurde auf den 25. November 2015 vertagt.

Mein Fazit der Anhörung im Fall Yasin Yörü


Es war offenkundig, dass in diesem Verfahren von hoher politischer Bedeutung einige problematische Standardverfahren im Zuge der polizeilichen Ermittlungen angewandt worden waren. Es wurden zunächst ohne konkrete Beweise einige Jugendliche aus der Nachbarschaft des Tatortes verhaftet, denen man eine Teilnahme an den Protesten unterstellte. Zusätzlich gerieten einige Personen ins Fadenkreuz, die früher in der Stadt politisch aktiv gewesen waren. Im Falle eines 40-jährigen bekannten Fotografen mit schwerem Herzleiden reichte diese in die Zeit vor seiner Ehe im Jahr 2008 zurück. Einige Angeklagten hatten sich in der Vergangenheit kleinerer Vergehen wie Diebstähle oder Drogendelikte schuldig gemacht. Die Anklage stützte sich im Wesentlichen auf Aussagen der Mitangeklagten.
 Und, wie bereits dargestellt, zogen mehrere Angeklagte (mindestens drei) ihre Geständnisse oder belastenden Aussagen in der Anhörung zurück, weil sie unter Druck in Polizeihaft zustande gekommen seien.


Die Staatsanwaltschaft hatte einen zentralen Zeugen, den zweiten Angeklagten, der alle bis auf einen Mitangeklagten kannte. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um einen von außerhalb kommenden Studenten, einen politischen Aktivisten. Der Student betonte, "keiner Ideologie anzuhängen, wie sie von den an diesen Ausschreitungen beteiligten Gruppen vertreten" werde, und sei daher auch nicht beteiligt gewesen. 
Mehrere Zeugen wiesen darauf hin, dass es keine konkreten Beweise für ihren Aufenthalt in der Nähe des Tatortes gäbe, wie zum Beispiel Fotos oder Aufzeichnungen von Überwachungskameras, und verwiesen auf mögliche entlastende Beweise (Telefonate; Atteste von Ärzten oder Arbeitgebern), die aber scheinbar von der Polizei - trotz über zehnmonatiger Untersuchungshaft der meisten Angeklagten - nicht überprüft bzw. ermittelt worden waren.

Eine seltene Ausnahme zu den ansonsten problematischen Befragungen bildete die Vernehmung der vier Angeklagten auf Kurdisch. Sie wurden der schwersten Verbrechen beschuldigt (Aufrufe zur Tötung der sich in der Wohnung befindenden Menschen; Tragen von Knüppeln; Aufbrechen von Türen; Schusswaffengebrauch). Diese Angeklagten befragte der Richter auch gezielt nach Verbindungen, durch Angehörige etwa, oder nach einer Mitgliedschaft in der PKK.  Dieses Vorgehen führte zu einem juristischen Disput mit einem der Rechtsanwälte, der angesichts der öffentlichen Berichte über die Ausschreitungen wissen wollte, warum der Richter nicht direkt nach der YPG, dem bewaffneten Arm der Partei, frage. Als der Richter dies unverzüglich nachholen wollte, wandte der Anwalt ein, dass dies nicht zulässig sei, da in der Anklageschrift nur von der PKK, nicht der YPG die Rede sei. Der Richter setzte sich über den Einwand hinweg und fragte nun gleich alle Angeklagten, ob sie Mitglied der YPG seien, wozu sich keiner bekannte. Zuvor hatte einer der Beschuldigten eingeräumt, als Kind bei der PKK aktiv gewesen zu sein.

Nur der elfte Angeklagte der kurz nach der Mittagspause gegen 15 Uhr vernommen worden war, wurde eines noch schwereren Verbrechens beschuldigt als die vier in kurdischer Sprache Vernommenen. Er soll den Angriff angezettelt haben. Bei ihm soll es sich um den Eigentümer des Gebäudes, in welchem die Morde stattfanden, handeln. Er wollte den ganzen Tag zu Hause geblieben sein und nichts mit den Vorfällen zu tun gehabt haben.
 In diesem Zusammenhang hörte das Gericht auch eine Person namens Hassan aus Diyarbakir per Videoschaltung an. Dies sollte sein Vater gewesen sei, der zu beweisen versuchte, dass er sich zur fraglichen Zeit auf einem Ausflug in der Provinz Hattay befunden habe, wozu er zahlreiche Fotos vorgelegt hatte, auf denen er aber nur in einem Fall im Bilde war. Der Richter lehnte dieses Beweismittel trotz starker Proteste des Anwalts ab.

Die Prozessführung durch den vorsitzenden Richter verlief nach der anfangs harschen Ermahnung zu Ruhe und Ordnung überwiegend sachlich und korrekt. Nur im Zusammenhang mit der Forderung nach einer Übersetzung ins Kurdische reagiert er immer wieder gereizt. An einer Stelle fragte er einen der Angeklagten, ob er wirklich kein Türkisch spreche, oder ob er auf Befehl der PKK auf eine Übersetzung ins Kurdische bestehe.

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