Blog Afghanistan 28. April 2016

Ein Bericht aus Chios: Europas Willkommensgruß für einen schutzsuchenden Afghanen

Flüchtlinge im Hafen der griechischen Insel Chios, die die Nacht im Freien verbringen mussten (April 2016).

Auf den griechischen Inseln Lesbos und Chios sitzen Hunderte Flüchtlinge unter unwürdigen Bedingungen fest. Im April reiste eine Amnesty-Delegation auf die Inseln, um sich vor Ort über die Lage zu informieren.

Conor Fortune ist Nachrichtenredakteur in der Pressestelle im internationalen Amnesty-Sekretariat in London

Man kann ein fahrendes Schiff nicht abrupt zum Stillstand bringen – vielleicht aber seine Richtung ändern. 

Genau das ist vor Kurzem in der Ägäis passiert. Gemeinsam mit einigen Kolleginnen und Kollegen von Amnesty International war ich auf die griechischen Inseln Lesbos und Chios gereist, um mir vor Ort ein Bild von der Situation der geflüchteten Menschen zu machen.

Am 5. April befanden wir uns auf einer Fähre von Lesbos nach Chios, als die Durchsage gemacht wurde, dass wir unseren Zielhafen aufgrund "der Flüchtlingssituation" nicht anfahren könnten. Im Anlegebereich des Hafens befanden sich Hunderte Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten, die dort im Freien übernachteten.

Unsere Fähre – ein Metallkoloss von der Größe zweier Fußballfelder – stellte eine ernste Bedrohung für diese Menschen dar. Wir wurden daher umgeleitet und legten an einem anderen Hafen an, der etwa eine Stunde entfernt lag.

Zu diesem Zeitpunkt befanden sich auf Chios mehr als 1.600 Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten. Auf Lesbos waren es etwa zweimal so viele. Auf Chios wurden etwa 1.200 von ihnen unter haftähnlichen Bedingungen im Flüchtlingslager VIAL festgehalten, einer geschlossenen Hafteinrichtung in der Nähe einer verlassenen Aluminiumfabrik, etwa 5,5 km landeinwärts. Hunderte weitere Menschen übernachteten im Hafen im Freien, nachdem sie einige Tage zuvor wegen gewaltsamer Zusammenstöße aus dem Lager geflohen waren.

Schutzlos im Hafen

Am Morgen nach unserer Ankunft konnten wir uns ein Bild von der prekären Lage machen, in der sich die Menschen im Hafen befanden. Der Kontrast zwischen ihrer Not und Hilfsbedürftigkeit und dem regen Treiben in den Cafés nur wenige Meter entfernt hätte stärker nicht sein können.



Zahlreiche Zelte und provisorische Unterkünfte aus Decken und Planen säumten den Anlegebereich. Viele Personen lagen in Decken gewickelt am Wasser oder saßen im Schatten entlang der angrenzenden Straße.



In der Mitte des Hafenbeckens stand ein rot-pinkes Iglu-Zelt, an dem mehrere handschriftliche Hilferufe befestigt waren. Auf einem Baby-Lätzchen stand: "Helft uns. Wir sind syrische Kinder. Wir brauchen ... dringend Hilfe. Wir wollen nicht hier in Griechenland sein. Wir wollen nicht in die Türkei zurückgeschickt werden. Wir brauchen Sicherheit und Frieden."

Hilferuf von Flüchtlingen im Hafen der griechischen Insel Chios (April 2016).

In einem anderen Bereich des Hafens, in der Nähe der steinigen Küste, fanden wir ein großes weißes Zelt mit dem Logo des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR). Dort hatten einige Familien vorübergehend Zuflucht vor der spätmorgendlichen Sonne gesucht. Kleine Gruppen syrischer und afghanischer Männer unterhielten sich vor dem Zelt, während zwischen Fischerhütten einige Kinder spielten.

Flucht aus Afghanistan


Wir setzten uns vor dem Gebäude der Hafenpolizei auf der anderen Seite der Straße in den Schatten und hörten zwei afghanischen Männern zu, die uns ihre Geschichte erzählten. Ein kleiner Junge aus Kabul spielte in der Nähe und beäugte uns von Zeit zu Zeit neugierig.

Einer der Männer, der 20-jährige F., sagte uns, dass er mit seiner Familie aus Herat fliehen musste, weil sie dort nicht mehr sicher waren.

Sein älterer Bruder habe einige Zeit als Dolmetscher für US-Streitkräfte gearbeitet, was andere Verwandte wütend gemacht habe, die den Taliban nahestanden. Nachdem sein Bruder Morddrohungen bekommen hatte, sei er nach Deutschland geflohen und habe dort Asyl beantragt.

Doch dann sei der Rest der Familie ins Visier der Taliban geraten und von diesen als "Ungläubige" bezeichnet worden. F. erzählte, wie er etwa ein Jahr zuvor von den Taliban verprügelt worden war. Er erlitt dabei Verletzungen an der Nase und im Gesicht und leidet seitdem an Atemschwierigkeiten.

Nach diesem Angriff floh F. mit seiner Mutter und seinen vier jüngeren Brüdern aus Afghanistan. Sie machten sich auf den schwierigen Weg durch den Iran und die Türkei.

Als sie versuchten, mit dem Boot nach Chios überzusetzen, tauchte die türkische Polizei am Strand auf. In dem darauffolgenden Chaos wurde die Familie getrennt. Auch Wochen später weiß er noch immer nicht, was aus seinen zwei jüngsten Brüdern geworden ist, die erst 12 und 13 Jahre alt sind.

F. sagte uns, dass seine Mutter krank sei vor Sorge um ihre Söhne. Als wir sie zum ersten Mal sahen, konnte sie nicht einmal mit uns sprechen, und als ich später noch einmal wiederkam, weinte sie laut vor Kummer und Anspannung.



Sie holte ein paar kleine Tüten hervor und zeigte mir die Medikamente, die sie gegen ihren Bluthochdruck und andere Erkrankungen einnimmt. Sie sagte, sie habe seit Tagen nichts mehr gegessen.

Auf Chios inhaftiert


Als F., seine Mutter und rund 50 weitere Menschen etwa am 20. März auf Chios eintrafen, wurden sie sofort von der griechischen Polizei festgenommen und in die geschlossene Einrichtung VIAL gebracht.

"Als wir uns am folgenden Tag registrieren lassen wollten, fragte die Polizei uns weder, warum wir dort sind noch wohin wir wollten. Sie fragte uns auch nicht, ob wir einen Asylantrag stellen wollten", erzählte uns F. Stattdessen wurde den Menschen mitgeteilt, sie würden in die Türkei zurückgeschickt.

"Wir können nicht in die Türkei zurückgehen", sagte er uns, offenkundig verzweifelt, als er an diese Möglichkeit dachte.

Wie viele der Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten, verwirrte F. das Asylverfahren und er kannte seine Rechte nicht. Erst über eine Woche nach ihrer Inhaftierung in VIAL erhielten er und seine Mutter ein Dokument mit Informationen zum Asylverfahren in Farsi, Arabisch und Englisch. Sie stellten jedoch keinen Asylantrag, weil man ihnen gesagt hatte, das Formular sei nur für Neuankömmlinge.



In der Nacht des 1. April kam es zwischen afghanischen und syrischen Inhaftierten in VIAL zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.

F. beschrieb die Gewalt als angsteinflößend und erklärte, dass seine Mutter dadurch noch mehr verzweifelt sei. Ihr Blutdruck stieg an und sie packte alle Sachen zusammen und beschloss, aus der Einrichtung zu fliehen. Zusammen mit rund 400 anderen Inhaftierten, brachen F. und seine Mutter aus. Sie machten sich zum Hafen auf, wo es jedoch keine Infrastruktur oder Unterstützungsmöglichkeiten gab.

"Die Lage ist wirklich schlimm hier – es gibt kein Essen, kein Wasser, gar nichts. Sie haben uns gesagt, wir sollten nach VIAL zurückgehen, um Asyl zu beantragen. Wir können aber nicht dahin zurückgehen. Wir sind hierher gekommen, um frei zu sein und nicht, um inhaftiert zu werden".

Wieder unterwegs


Eine Woche, nachdem die Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten am Hafen eingetroffen waren, entluden sich Spannungen innerhalb der örtlichen Bevölkerung in Gewalt. Flüchtlingsgegnerinnen und -gegner stürmten das provisorische Lager am Hafen. In der Nacht vom 7. auf den 8. April räumte die Polizei das Hafengelände und schickte die Menschen von dort in einen Park oder anderer Gebiete der Stadt.

Als ein Kollege von mir F. danach kontaktierte, sagte dieser, er und seine Mutter hätten die polizeilichen Anweisungen befolgt und seien in eine offene Einrichtung gegangen, die in der Nähe an der Küste liegt. Dort hätten sie zwar Zugang zu einigen Räumlichkeiten und fühlten sich einigermaßen sicher, müssten aber draußen schlafen, weil die Zelte alle belegt seien.



Kein funktionierendes Asylsystem

Der Fall von F. und seiner Mutter ist nur die Spitze des Eisbergs. Ein Team von Amnesty hat 89 Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten befragt, und jede einzelne Geschichte war bestürzend. Die meisten wussten nur wenig über das Asylverfahren und ihren eigenen Status. Zudem gab es nahezu keine Informationen über möglichen rechtlichen Beistand oder Zugang dazu. Insgesamt herrschten unter den Menschen große Unsicherheit, Angst und Verwirrung.

Diese chaotische Situation ist direkt darauf zurückzuführen, dass weder die griechischen Behörden noch die EU bisher nicht die erforderlichen menschenrechtlichen Bedingungen geschaffen haben, um das im März ausgehandelte Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei so umzusetzen, dass die Rechte von Flüchtlingen nicht verletzt werden. Die Massenabschiebungen müssen ausgesetzt werden, solange entscheidende Menschenrechtsgarantien nicht umgesetzt worden sind.



Das Abkommen kann mit einem riesigen Schiff verglichen werden: Es ist vielleicht zu spät, es aufzuhalten, aber die EU-Staats- und Regierungschefs können und müssen den Kurs ändern, um zu verhindern, dass die Rechte von Flüchtlingen untergehen.


Weitere Informationen zum Thema Flüchtlinge & Asyl auf www.amnesty.de/fluechtlinge

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