Amnesty Journal Guatemala 26. Juli 2018

Guatemalas vergessene Töchter

Eine Frau hält mit feuchten Augen die eingerahmte Zeichnung ihrer Tochter in die Kamera

Untröstliche Mutter. Vianey Hernández mit einem Bild ihrer Tochter Ashly Angely, März 2018.

Anderthalb  Jahre nach dem Brand in ­einem Kinderheim nahe ­Guatemala-Stadt hat die ­Regierung keine Konsequenzen aus der Tragödie gezogen.

Von Kathrin Zeiske, San José Pinula

Lange verstand Vianey Hernández nicht, warum ihre Tochter nicht raus aus dem Elend und rein in den "Hogar Seguro" wollte. "Sicheres Zuhause" heißt das Heim, in das die Mutter die schwer erziehbare 14-Jährige schicken wollte, um sie vor Drogen und Kriminalität zu schützen. "Ich dachte, Ashly Angely wäre dort sicher. Ich dachte, sie bekäme dort Hilfe", sagt Vianey ­Hernández und weint.

Was sie nicht wusste: Die Einrichtung in der Nähe von Guatemala-Stadt stand seit Jahren im Fadenkreuz von Ermittlungen. Dabei ging es um Misshandlungen und Vergewaltigungen. Die Staatsanwaltschaft hatte bereits die Schließung des "Hogar Seguro" gefordert – sie vermutete einen Kinderhandelsring, in den der Direktor des staatlichen Kinderheims verwickelt war. Doch die Behörden reagierten nicht. Im März 2017 war es zu spät: 41 Mädchen, darunter Ashly Angely, starben bei einem Brand, 15 weitere überlebten mit schwersten Verbrennungen. Die Jugendlichen hatten gegen Misshandlungen und sexuelle Ausbeutung protestiert. Angehörige und Aktivistinnen sprechen von einer Hinrichtung. Viele im Land sehen in der Tragödie ein Symptom für das Versagen des Staates.

"Meine Tochter sagte, sie würde sich umbringen, wenn ich sie da nicht raushole", erzählt Vianey Hernández. Aber sie glaubte ihr nicht. Tatsächlich waren Misshandlungen und ­Demütigungen Alltag in dem Kinderheim. Nach Angaben von Zeugen wurden Mädchen von den Aufseherinnen mit Medikamenten ruhig gestellt, vom Wachpersonal vergewaltigt oder nachts mit einer Kapuze über dem Kopf aus dem Heim geholt. Ein paar Stunden später wurden sie zurückgebracht und ver­prügelt, damit sie schweigen. Auch erzwungene Abtreibungen sollen stattgefunden haben.

Am 7. März 2017 kam es zu einer Revolte. Spezialeinheiten der Polizei beendeten auf brutale Weise eine Massenflucht. Die Jugendlichen wurden zunächst stundenlang mit Elektroschockern und Schlagstöcken in Schach gehalten. Dann wurden 56 Mädchen über Nacht in einem kleinen Raum eingepfercht. Sie froren, es gab keine Toilette.

Am nächsten Morgen konnten sie die Situation nicht mehr ertragen. "Laut einer Überlebenden war es Ashly Angelys Idee, Matratzen in Brand zu stecken, damit man sie rauslässt", berichtet ihre Mutter Vianey Hernández. Alle waren einverstanden. Sie wollten ein Zeichen setzen an diesem 8. März – dem Internationalen Frauentag, an dem auf der ganzen Welt gegen Gewalt gegen Frauen protestiert wird. Doch womit die Mädchen nicht gerechnet hatten, waren ihre Aufpasser in Uniform. Neun Minuten lang schloss eine Polizeibeamtin das Zimmer trotz des Feuers nicht auf. Neun Minuten lang ignorierte sie die Hilferufe und die Schreie der Mädchen. Bis diese verstummten. Als sie die Tür schließlich öffnete, konnte nur noch eines der Mädchen mit brennenden Haaren hinauslaufen. Andere lagen schwer verletzt auf dem Boden. Hinter ihnen stapelten sich verkohlte Körper.

Der "Hogar Seguro" ist direkt dem Sozialministerium unterstellt. Selbst Präsident Jimmy Morales war über den Polizeieinsatz informiert worden. "Doch der Staat ließ die Familien nach der Katastrophe vollkommen allein", sagt Stef Arreaga. Die ­Besitzerin einer Bar in Guatemala-Stadt hatte die Ereignisse in dem Kinderheim in den Nachrichten verfolgt und sich kurz­entschlossen mit ihrer Mutter und Freundinnen auf den Weg dorthin gemacht.

Stef Arreaga schaffte über Kontakte zu Feuerwehr und Krankenhäusern, was die Behörden nicht zustande brachten: eine Liste der Überlebenden zusammenzustellen. Nebenbei stillte sie sogar noch die Babys von Müttern, die vor dem Leichenschauhaus kollabiert waren. Später half sie bei der Identifizierung der Toten. Keine leichte Aufgabe. "Die Mütter sagten uns, meine Tochter hatte so viele Ohrlöcher, dieses Tattoo, jenen Leberfleck. Doch die toten Mädchen hatten keine Ohren und keine Haut mehr", sagt Arreaga. Zum Glück hatte sie noch weitere Mithelfer: Das Kollektiv Ocho Tijax richtete eine Suppenküche ein und suchte Anwälte, die die Angehörigen als Nebenkläger rechtlich vertreten.

Seitdem sind anderthalb Jahre vergangen. Doch das Verfahren gegen Verantwortliche tritt weiter auf der Stelle, und die Psychologin Brenda Chamán, die in der Nacht des Brandes die Aufsicht hatte, ist weiterhin unter Auflagen auf freiem Fuß. Im Sommer wollte das Parlament über eine lebenslange Opferrente für die überlebenden Mädchen entscheiden.

Am ersten Jahrestag des Brandes versammelte sich eine ­kleine Menschenmenge vor dem "Hogar Seguro". Von außen gleicht das Heim einer Festung. "Ratten" hat jemand in die Tür geritzt. Ein Quintett spielte klassische Musik zwischen hohen ­Pinien. Die Zahl der Fotografen und Kamerateams übertraf die der Angehörigen und Aktivistinnen, die eine Maya-Zeremonie für die toten Mädchen abhielten. Von staatlicher Seite aus gab es kein Gedenken. Offizielle Stellen versuchen vielmehr, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Sie stellen die Mütter als Schuldige dar, die unfähig sind, auf ihre Kinder aufzupassen. In der Bevölkerung sehen viele die toten Mädchen aus den Armenvierteln als Kriminelle an, die den Tod verdienen.

"Die Kriminalisierung der Jugend in Guatemala steht den Kinderrechten diametral entgegen", sagt Carolina Escobar Sarti, die Direktorin der internationalen Kinderschutzorganisation La Alianza Guatemala. Einige Mädchen, die im "Hogar Seguro" starben, waren zuvor in einer Unterkunft von La Alianza. Ob eine Jugendliche vom Jugendgericht in eines dieser freundlich gestrichenen Heime oder in den völlig überfüllten "Hogar Seguro" überwiesen wurde, war oft Glückssache. Escobar Sarti prangert die Stigmatisierung der Überlebenden an: "Der Staat hat auf ganzer Linie versagt. Die Mädchen in seiner Obhut haben vor, während und nach dem Brand keinerlei Schutz genossen."

Viele Überlebende erlitten infolge der schweren Verbrennungen Amputationen. Eine von ihnen ist noch immer in einer Spezialklinik in Houston. Manche müssen einen Schutzanzug tragen, der die eigene Haut ersetzt, einige sind furchtbar entstellt. Keine Bedingungen, unter denen Mädchen aus extremer Armut langfristig überleben können. "Die physisch und psychisch für immer Gezeichneten müssen eine staatliche Versehrtenrente bekommen", fordert Escobar Sarti.

Eine 14-Jährige aus dem "Hogar Seguro" hat im Oktober ein Kind zur Welt gebracht: einen gesunden Jungen namens Alexander. Eine Wandtafel, die auf die Schwangere fiel, hatte sie vor dem Flammentod geschützt. 

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