Amnesty Journal Deutschland 28. August 2023

Jede*r kann mich lesen

Ein Mann und eine Frau sitzen sich gegenüber auf Plastikstühlen, halten beide Zettel in der Hand, sie hört zu, er redet und gestikuliert.

Offen für Gespräche: Simon und Hanna bei Living Libraries in Leipzig

Gegen Rassismus und Diskriminierung – in Sachsen bringen der Verein JederMensch und Amnesty unterschiedliche Personen ins Gespräch, um Vorbehalte abzubauen.

Aus Leipzig Harriet Wolff

Hanna ist zufällig vorbeigekommen. Die Lehramtsstudentin für Sonderpädagogik war nur für eine kurze Literaturrecherche in der Leipziger Stadtbibliothek. Eine Schiefertafel hat die 22-Jährige dann neugierig gemacht. Darauf steht in Kreide "Living Library" – veranstaltet von Amnesty International und JederMensch. Hanna betritt interessiert das sogenannte Leipzig-Zimmer, den lichten, großen Veranstaltungsraum der Stadt im ersten Stock der Bibliothek.

"Lasst uns miteinander statt übereinander reden" lautet das Motto der Work­shops, deren Herzstück die "Human Books" sind, die "menschlichen Bücher". Es sind Menschen, die hier und an anderen Orten in Sachsen ihre persönliche ­Geschichte erzählen. Menschen, die die Kraft finden, zum Beispiel von ihrer Flucht über das Mittelmeer zu berichten. Oder die in ein offenes Gespräch gehen über ihr Leben als non-binäre oder autistische Person. Die Living Library hat Schnittmengen mit dem Konzept der Zeitzeug*innengespräche – doch im Unterschied zu ihnen ist die Zeit, über die man gemeinsam spricht, die Gegenwart.

Sichere Begegnungsräume

John Berger, im Hauptberuf Lehrer für Ethik und Gemeinschaftskunde an einer Pflegeschule, hat 2019 als erster in Deutschland begonnen, zusammen mit anderen Engagierten bei Amnesty Sachsen das Konzept der Living Library zu entwickeln. Auslöser war ein bewegender Besuch bei Amnesty im tschechischen Prag. Dort stößt das Konzept schon länger auf großen Zuspruch, unter anderem in Schulen und Universitäten. "Es schafft sichere Begegnungsräume, in denen Menschen ihre Geschichte mit anderen teilen und ihre Erfahrungen respektvoll austauschen", sagt Berger.

An diesem sonnigen Nachmittag sind es unter anderen Hanna und Simon, die sich zu einem Gespräch von rund 20 Minuten zusammenfinden. Insgesamt sechs Human Books sind gekommen, um aus ihrer Lebensgeschichte zu erzählen. Sie werden vor und nach den Treffen von den Ehrenamtlichen von JederMensch behutsam betreut, heute sind neben John Berger auch Liane Brandt und Peer Belz dabei. Jede*r Teilnehmende kann jederzeit das Gespräch abbrechen oder auf bestimmte Fragen nicht antworten.

Am Eingang zum Leipzig-Zimmer stehen auf bedruckten Zetteln die Kurzbiografien der anwesenden Human Books, die für Gespräche zur Verfügung stehen. Zu ihnen gehört auch Emmanuella, die mit 17 Jahren von Nigeria nach Deutschland floh. "Es ist nicht einfach für mich, in die Vergangenheit zu gehen, aber ich will nicht mehr, dass mir die Vergangenheit wehtut. Deshalb erzähle ich davon", sagt sie. "Ich will Bewusstsein schaffen für das, was ich erlebt habe, will über meine Flucht, das Kentern mit dem Boot und mein Ankommen hier sprechen." Heute ist Emmanuella 23 Jahre alt, lebt in Halle und hat ihre Ausbildung zur Kinderpflegerin unterbrochen, weil sie Mutter geworden ist.

John Berger erklärt die Idee des Konzepts: "Wir alle haben Vorurteile und denken in Stereotypen. Living Libraries können Perspektivwechsel provozieren, sie machen sensibler für Diskriminierungen. Und sie lassen uns hoffentlich empathischer zuhören." Ziel der Work­shops ist es, einen zugewandteren, aufgeschlosseneren Umgang mit anderen Menschen, Kulturen und Religionen zu fördern.

Es ist nicht einfach für mich, in die Vergangenheit zu gehen, aber ich will nicht mehr, dass mir die Vergangenheit wehtut. Deshalb erzähle ich davon.

Emmanuella
mit 17 Jahren von Nigeria nach Deutschland geflohen

Hanna, die Lehramtsstudentin, hat sich für ein Gespräch mit Simon entschieden, der ebenfalls in Nigeria geboren wurde. Auf seinem biografischen Zettel heißt es unter anderem: "Simon lebt seit 1997 in Deutschland. In den ersten Jahren wurde er hier extrem erniedrigt. Dennoch konnte er einen Masterabschluss (…) machen. Als erste Maßnahme in seiner Arbeitslosigkeit musste er einen Gabelstaplerschein machen, statt Unterstützung für die Jobsuche in seinem Fachgebiet zu erhalten." Mitten im Gespräch fragt der 51-Jährige Hanna ganz direkt: "Was glaubst du, ist das Bild von Afrika zum Beispiel in den Medien?" Simon schafft es, eindringlich zu vermitteln, wie das meist sehr negative Fremdbild Afrikas zu seinen diskriminierenden Erfahrungen hierzulande beigetragen hat.

Unmittelbare Begegnungen

Hanna hört aufmerksam zu, stellt immer wieder konzentriert und einfühlsam Fragen. Die Studentin ist dankbar, dass sie spontan derart viel Input mit nach Hause nimmt. "Das wird mich weiter ­beschäftigen, das hat mich sehr berührt. Und ganz klar ist mir heute auch geworden: Niemand flüchtet, verlässt seine Heimat einfach so, ohne einen schwerwiegenden Grund."

Wiebke Buth, Vorstand für Menschenrechtsbildung und -training bei Amnesty Deutschland, sieht die Living Libraries als ein spannendes, neues Konzept der Menschenrechtsbildung. Es verstärke "wichtige Prinzipien von Amnesty – nämlich über, durch und für Menschenrechte zu lernen". Die unmittelbaren Begegnungen "im emotionalen Bereich, die schon in der Vorbereitung für die Veranstaltenden zeitintensiv und fordernd sind, fördern die Zivilcourage, es ist ein extrem positives Geben und Nehmen". Buth hofft, dass sich die Living Libraries im deutschsprachigen Raum etablieren.

Auch Mika und Sabine sprechen an diesem Tag angeregt miteinander. Sabine ist Lehrerin an einer Oberschule in Delitzsch, sie möchte das Format an ihrer Schule einführen. Mika hat auf seinem Biografiezettel notiert: "19 Jahre alt, trans* nicht-binär, queer und aus dem Autismus-Spektrum. (…) Hilfe von Autismus-Beratungsstellen und Psycho­log*innen zu erhalten, ist schwierig und langwierig (…)."

Es ist nicht immer gewollte Diskriminierung. Oft ist es einfach fehlende Information über andere Erfahrungen.

Chamberlin
2010 aus Nigeria nach Deutschland gekommen
Ein Mann mit Kreuzkette um den Hals sitzt an einem Schreibtisch, er trägt die Haare kurz, einen Schnurrbart, eine goldene Uhr.

"Miteinander statt übereinander reden": Chamberlin bei Living Libraries in Leipzig

Sabine will von Mika wissen: "Wie hast du gemerkt, dass du anders bist?" – "Mein Alltag kostet mich extrem viel Anstrengung", erzählt Mika. "Heute weiß ich aber zum Beispiel, was man beim Bäcker sagt – früher war ich in einer solchen Situation überfordert. Ich habe das Gymnasium geschafft, aber ich musste mich nach der Schule sofort ins Bett legen." ­Sabine fragt betroffen nach: "Hast du Unterstützung von deiner Familie?" – "Ich hatte es nicht so gut bei meinen Eltern, die wollen mein Sein, so wie ich bin, nicht wahrhaben." Heute lebt Mika in einer Wohngemeinschaft in Leipzig, seine Mitwohnenden nehmen sein Anderssein an, schätzen ihn für das, was er ist.

"Für mich ist es anstrengend, als Human Book von mir zu sprechen. Aber die Menschen müssen wissen, wie vielfältig andere Menschen sind. Denn erstmal freuen sich die wenigsten über die Abweichung von der Norm", meint Mika. Sabine bedankt sich bei ihm; der Austausch hat sie darin bestärkt, ihre Schüler*innen zur Teilnahme an einer Living Library zu ermuntern. "Das Leben ist nicht nur der begrenzte Raum, den man täglich durchquert. Ich will sie an eine offenere, vorurteilsfreiere Sichtweise heranführen."

Chamberlin, der 2010 aus Nigeria nach Deutschland kam und in Halle eine migrantische Selbsthilfeorganisation mitbegründet hat, sieht seine Arbeit als Human Book als Auftrag "gegen die Angst vorzugehen" – gegen die eigene und die der Mitmenschen: "Es ist nicht immer gewollte Diskriminierung. Oft ist es einfach fehlende Information über andere Erfahrungen", meint der 40-Jährige. Chamberlin ist stolz darauf, bei der Living Library mitzumachen, wofür er wie alle lediglich eine Aufwandsentschädigung erhält: "Jeder und jede kann mich lesen, ich freue mich immer auf die Gespräche."

Harriet Wolff ist Journalistin und Fotografin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Living Library – Geschichten von Mensch zu Mensch – weitere Infos finden Sie hier: www.jedermensch.info

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