Amnesty Journal Brasilien 28. August 2019

Brasiliens Waffengesetz: Knarren für das Volk

Eine Pistole liegt auf einem Tisch, davor ein gelbes Preisschild.

Präsident Jair Bolsonaro liberalisiert Brasiliens Waffengesetze. Nicht nur Menschenrechtler, sondern auch Evangelikale sehen das kritisch.

Von Martina Farmbauer, Rio de Janeiro

Für freien Zugang zu Waffen geworben hat Jair Bolsonaro bereits als Parlamentarier. 2017 posierte der damalige Abgeordnete des Bundesstaats Rio de Janeiro auf einer Rüstungsmesse in der Küstenstadt mit einem T4-Gewehr des Waffenherstellers Tarus Armas, das auch militärische Spezialeinheiten benutzen. An einem der Stände versprach er ländlichen Produzenten, sich für freien Zugang zu dem High-End-Gerät stark zu machen. Dafür werde er auch das Strafgesetzbuch ändern lassen, kündigte er vollmundig an. Ein Versprechen, das Bolsonaro im Präsidentschaftswahlkampf wiederholte: Im Oktober 2018 kündigte der ehemalige Fallschirmjäger und Hauptmann der Reserve an, er werde den Schutz der Bevölkerung vor Gewalt und Kriminalität durch liberalere Waffengesetze verbessern.

Diese krude Logik hat einen Hintergrund, erklärt der Politikwissenschaftler Mauricio Santoro von der Universität Rio de Janeiro: "Für Bolsonaros Wählerbasis ist diese Angelegenheit sehr wichtig. Es handelt sich um dabei um Leute, die Waffen mögen und glauben, dass eine Waffe im Haus hilft, Verbrechen zu bekämpfen und die Sicherheit zu steigern." Dabei hätten Studien belegt, dass mehr Waffen zu mehr Gewalt und Morden führten – sei es bei Familienstreitigkeiten, bei Auseinandersetzungen im Straßenverkehr oder unter Kriminellen. Untersuchungen zeigten, dass die Mordrate um zwei Prozent steige, wenn die Zahl der Waffen um ein Prozent zunehme.

Doch Bolsonaro genehmigte unmittelbar nach seinem Amtsantritt den Erwerb von vier Schusswaffen pro Person, die sowohl zu Hause als auch am Arbeitsplatz aufbewahrt werden können. "Das Volk will Waffen und Munition kaufen, und wir können ihm das nicht verweigern", sagte er bei der Unterzeichnung des entsprechenden Dekrets. Dabei ist Brasilien bereits heute eines der gewalttätigsten Länder der Welt. 2018 wurden mehr als 51.000 Menschen getötet. Waffenbesitz ist in dem Land weit verbreitet. Nach Angaben der Tageszeitung Folha de São Paulo werden pro Stunde sechs Schusswaffen an Zivilisten verkauft. 

Im Mai sorgte Bolsonaro mit einer weiteren rechtlichen ­Lockerung dafür, dass Waffenbesitzer bis zu 5.000 Schuss ­Munition pro Waffe und Jahr erwerben dürfen. Zudem können Militärs nach zehn Dienstjahren künftig privat Waffen tragen; Sportschützen, Jäger und Waffensammler dürfen mit ihren ­Waffen reisen.

Öffentliche Kritik

Das Dekret ließ auch Lücken für den Erwerb schwerer Waffen. Nach öffentlicher Kritik sah Bolsonaro jedoch davon ab, diese Liberalisierung voranzutreiben. Er ließ mitteilen, dass einige Punkte des Dekrets, die Justiz, Parlament und "die Gesellschaft im Allgemeinen" infrage gestellt hätten, modifiziert würden, "ohne seine Essenz zu verändern". Ziel der Veränderungen sei es lediglich, "formale Fehler zu beheben". Das im Mai erlassene Dekret hatte starke inhaltliche Kritik von Menschenrechtsorganisationen und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren hervorgerufen.

Nachdem die Nachfrage an T4-Gewehren von Tarus Armas ebenso gestiegen war wie die nach Aktien des brasilianischen Rüstungsproduzenten, ließen die Veränderungen des Dekrets die Wertpapiere wieder sinken. Einem Bericht des Fernsehsenders TV Globo zufolge führte Taurus eine Warteliste mit 2.000 Kunden, die das T4, das umgerechnet mehr als 2.000 Euro kostet, erwerben wollten.

Auch Amnesty International sieht durch das Dekret das Recht auf Leben und die Freiheit und Sicherheit der Menschen bedroht. Die Partei Rede Sustentabilidade der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin und Umweltministerin Marina Silva hatte angekündigt, eine Annullierung der Maßnahme beim Obers­ten Gericht zu beantragen. Die Richterin Rosa Weber setzte der Regierung Bolsonaro eine Frist von fünf Tagen, um sich zu dem Dekret zu äußern. Der Widerstand des Parlaments mag überraschen, da der Präsident dort eigentlich auf die Unterstützung von Abgeordneten zählen kann, die mit der Waffen- und Agrarlobby sowie mit Evangelikalen in Verbindung stehen.

Diese Gruppen spielten eine Schlüsselrolle bei der Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 und bei Jair Bolsonaros Wahl zum Präsidenten 2018. Evangelikale Politiker und Pastoren standen hinter ihm, von den 513 Abgeordneten des brasilianischen Kongresses gehören 200 den Evangelikalen an. "Doch auch wenn man die Evangelikalen mit dem Agrobusiness und der Waffenlobby in einem Atemzug nennt, sind ihre Positionen in Bezug auf Waffenbesitz sehr unterschiedlich", sagt Politikwissenschaftler Mauricio Santoro. "Die Evangelikalen sind dagegen, den Zugang zu Waffen zu erleichtern, vor allem aufgrund religiöser Überzeugungen und Werte." So protestierte der Abgeordnete und Pastor Sargento Isidório im Parlament dagegen, indem er sich in rotbefleckter Kleidung mit einer Waffen­attrappe auf den Boden legte. "Blut vergießen – ist es das, was das Parlament will?", fragte er. "Wir wollen Frieden, wir verteidigen das Leben!"

Die Kritik geht jedoch über den Inhalt des Dekrets hinaus, und betrifft auch das Vorgehen des Präsidenten. Die Abgeord­netenkammer bezeichnete den Text in einer Stellungnahme als rechtswidrig. Der Senat verfasste einen technischen Vermerk, in dem er auf Probleme des ursprünglichen Erlasses hinwies. Es war von einer Machtanmaßung des Präsidenten die Rede, der versucht habe, die Legislative zu umgehen. Da ein ­Dekret nicht dem bestehenden Waffengesetz entgegenstehen könne, sei sein Vorgehen nicht zulässig. "Einer der Gründe, ­weshalb Bolsonaro versucht hat, das Gesetz durch ein Dekret zu ändern und nicht das Parlament darüber abstimmen ließ, sind die unterschiedlichen Meinungen seiner Basis", sagt Mauricio Santoro. Ob er damit wirklich durchkomme, bleibe allerdings fraglich.

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